Familiennachzug zum minderjährigen Flüchtling – ein (fast) unmögliches Vorhaben

Ein Gastbeitrag von Heike Winzenried, Perspektivberatung für Flüchtlinge/Beratung unbegleiteter Minderjähriger im Caritasverband Köln:

“Der yezidische Jugendliche S. ist im Alter von 16 Jahren im November 2015 ohne Familienangehörige nach Deutschland geflüchtet. Seine Eltern und fünf Geschwister, darunter vier minderjährig, sind seit ihrer Flucht vor dem sogenannten Islamischen Staat im Jahr 2013 gezwungen, in einem Flüchtlingscamp im Nordirak zu leben. Der zwei Jahre ältere Bruder kam bereits im Juli 2015 nach Deutschland und wurde im August 2016 als Flüchtling anerkannt. Im Oktober 2016 fand ein Erstgespräch zwischen der Verfahrensberatung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und dem damals 17-jährigen Jugendlichen und seinem erwachsenen Bruder statt. S. ist sehr besorgt, ob es gelingen kann, seine Familie bis zu seinem 18. Geburtstag am 3. Juni 2017 nachzuholen. Der Familiennachzug zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ist grundsätzlich nur bei Anerkennung eines Asylrechts vor dem Erreichen der Volljährigkeit möglich.

Nun beginnt eine über Monate andauernde Auseinandersetzung mit den beteiligten Behörden. Mehrere Versuche, das Asylverfahren voranzubringen, bleiben zunächst erfolglos.

Durch direkte Nachfragen beim Bundesamt gelingt es endlich, einen Anhörungstermin für den Jugendlichen am 21.02.2017 zu erhalten. Danach erfolgen wiederum zahlreiche Bemühungen, die Asylentscheidung zu beschleunigen. Zu seinem / unserem Glück setzt sich schließlich eine Mitarbeiterin dafür ein, dass der Asylantrag von einer Einzelentscheiderin bevorzugt bearbeitet wird und wir erhalten die positive Entscheidung im Asylverfahren vom 31.03.2017 sogar vorab per E-Mail.

Am 03.04.2017 bittet die Verfahrensberaterin bei der deutschen Botschaft in Ankara erstmals um einen Sondertermin für die Beantragung des Nachzugs der Mutter von S. Ohne Sondertermin beträgt die Wartezeit auf einen solchen Termin bis zu einem Jahr. Die Eltern entscheiden sich dafür, dass lediglich die Mutter nach Deutschland nachziehen soll. Hintergrund ist eine neue Einschränkung beim Familiennachzug: es wird nur noch der Elternnachzug, nicht aber der Geschwisternachzug zu unbegleiteten Minderjährigen erlaubt. Für die Eltern besteht ein Rechtsanspruch auf Einreise, die Trennung von ihren weiteren Kindern, die sie im Herkunfts- oder Drittland zurücklassen müssen, wird jedoch nicht als humanitäre Härte anerkannt. Wie leicht nachzuvollziehen ist, bedeutet die Entscheidung, wer nach Deutschland nachreisen soll, und wer mit den Kindern, in der Hoffnung, vielleicht später nachziehen zu können, im Nordirak verbleibt, eine große Belastung für alle Familienmitglieder.

Daraufhin beginnt eine mehrwöchige Wartezeit mit wiederholten Anfragen per E-Mail und telefonisch bei der Botschaft sowie beim Bürgerservice und der Fachaufsicht des Auswärtigen Amtes. Die Wochen vergehen – und alle Beteiligten, der ältere Bruder, die Betreuerin und die Vormünderin bangen mit dem Jugendlichen, ob wir noch rechtszeitig einen Antragstermin erhalten werden. Schließlich wird ein Sondertermin für den 12.05. durch die Botschaft mitgeteilt. Leider benötigte die Mutter noch eine Beglaubigung der irakischen Behörden, so dass ihre Dokumente erst am 22. Mai vollständig sind und sie am 23. Mai den Termin bei der deutschen Botschaft in Ankara wahrnehmen kann. Am 29.05. stellte der von uns beauftragte Rechtsanwalt einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht in Berlin, damit das Visum unverzüglich erteilt wird. Obwohl die Ausländerbehörde zugesichert hatte, dem Familiennachzug zuzustimmen, behauptet die Botschaft am 30.05., dass sie das Visum erst erteile könne, sobald die Zustimmung der Ausländerbehörde vorliege. Nun beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, der nur noch mit Hilfe des von uns beauftragten Rechtsanwaltes, positiv entschieden werden kann.

Die Mutter spricht am 31.05. morgens wieder bei der Botschaft vor, die ihr mitteilt, sie solle um 16 Uhr wieder kommen. Sie weiß nicht, ob sie nun einen Flug nach Deutschland für den nächsten Tag buchen kann – oder nicht. Um 16 Uhr wird das Visum dann tatsächlich ausgestellt! Der Flug geht am 2. Juni um 3 Uhr morgens von Ankara und sie kommt um 7 Uhr in Düsseldorf an. Am Nachmittag desselben Tages stellt die Verfahrensberatung für sie einen Antrag auf Familienasyl. Ihr Visum ist nur bis zum 2.06. gültig. Sie hat starke Zahnschmerzen – und müsste eigentlich zum Zahnarzt.

Am 3. Juni wird ihr Sohn volljährig. An diesem Tag wäre eine Einreise nach Deutschland nicht mehr erfolgreich gewesen. Aber auch dieser Erfolg in letzter Minute ist nur ein Teilerfolg: Die Mutter muss nun auf ihre Anerkennung als Flüchtling voraussichtlich mehrere Monate warten – und erst dann kann sie wieder versuchen, den Familiennachzug ihres Mannes und ihrer minderjährigen Kinder zu beantragen. Dieses Verfahren wird voraussichtlich wiederum viele Monate dauern. Ob und wann die Familie wieder vereint sein wird, ist derzeit völlig offen.

Im telefonischen Gespräch mit der Amtsvormünderin des Jugendlichen, die sich bei der Verfahrensberatung für den gelungenen Elternnachzug bedankt, erfahre ich, dass dies wohl bisher unter den durch das Jugendamt betreuten unbegleiteten Minderjährigen erst der zweite Jugendliche ist, bei dem ein Familiennachzug geglückt ist. Angesichts der geschilderten Schwierigkeiten im Fall des Jugendlichen S. überrascht mich das nicht.”

 

 

 

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