Politik für alle

Susanne Steltzer, Leistungsbereichsleiterin Wohnen und Leben im Caritasverband Köln:

Wie vor jeder großen Wahl, fragt der CBP – der Bundesverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V. – auch vor der anstehenden Bundestagswahl, ob die Parteien auch die Belange der Menschen mit Behinderungen im Blick haben und unterzieht ihre Programme einer Prüfung mit sieben sogenannten Wahlprüfsteinen:

1. Politische Teilhabe und Selbstbestimmung sichern
Menschen mit Behinderungen sind gleichberechtigte und wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger unseres Gemeinwesens.
Ihre politische Teilhabe und Selbstbestimmung ist zu fördern und sicherzustellen, gerade bei den Personen, die aufgrund ihrer Behinderung besondere Zugangsbarrieren bei der politischen Teilhabe zu überwinden haben.
Bestehende Diskriminierungen in den Wahlgesetzgebungen sind zu beseitigen. Wichtig ist jetzt den Ausschluss vom Wahlrecht nach § 13 Bundeswahlgesetz aufzuheben.

2. Bundesteilhabegesetz auf Grundlage von UN-Behindertenrechtskonvention und hoher Fachlichkeit umsetzen
Das Bundesteilhabegesetz ist seit dem 01.01.2017 die wesentliche Leistungsgrundlage insbesondere für Menschen mit schwerst- und mehrfachen Behinderungen und psychischen Erkrankungen.
Bei der Umsetzung des Gesetzes ist sicherzustellen, dass deren Rechtsansprüche auf umfassende Leistungen zur gleichberechtigten Teilhabe über hohe fachliche Kriterien und klare Standards gewährleistet werden und auskömmlich finanziert sind. Es darf zu keinen Leistungslücken bei der Umsetzung des Gesetzes kommen. Auch dürfen Neuerungen weder für Leistungsberechtige noch für Leistungserbringer zu neuen Bürokratiehürden führen.
Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen und deren Angehörige brauchen Begleitung und Unterstützung bei der Antragstellung von Leistungen, bei der Bedarfs- und Hilfeplanung und im Alltag der sich durch das Gesetz verändernden Lebensvollzüge.

3. Menschenwürde und Lebensrecht für Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen achten und verteidigen
Das Recht auf Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Behinderung beginnt vor der Geburt. Politik muss gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention und Kinderrechtskonvention sicherstellen, dass das Lebensrecht aller Embryos geschützt wird, dass Gendiagnostik und Bluttestverfahren nicht zu Aussonderung und Tötung von vorgeburtlichem menschlichen Leben führen. Auch muss Politik deutlich dafür einstehen, dass entwürdigende Menschen- und Behinderungsbilder, wo immer sie sich zeigen, gesellschaftlich geächtet werden.

4. Reform der Kinder- und Jugendhilfe aus Sicht von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen
Die Reform der Kinder- und Jugendhilfe zu einem inklusiven Recht muss auf Bundesebene weiterentwickelt werden.

5. Arbeits- und Fachkräfte der Behindertenhilfe und Psychiatrie stärken
Die Dienste und Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie gewährleisten mit ihren Mitarbeitenden eine hohe fachliche Qualität der Unterstützung und Begleitung der Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen. Qualifikation, Fortbildung, Pflege der Mitarbeitergesundheit und ausreichende Zeitbudgets für die Teilhabeleistungen sind dafür wesentliche Voraussetzungen. Die tarifliche Vergütung ohne Abstriche muss in allen Leistungsgesetzen gesichert sein.

6. Freiheits- und Schutzrechte garantieren
Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen erleben täglich viele Einschränkungen, die ihre soziale Teilhabe erschweren oder gar verhindern. Es gibt Situationen, in denen auch die Freiheitsrechte von Menschen eingeschränkt werden müssen und es dabei sogar zu Zwangsmaßnahmen kommt. Dies sind Extremsituationen, die insbesondere für die betroffenen Menschen ein hohes Risiko der Traumatisierung bergen, aber auch für die betreuenden Einrichtungen und Dienste schwierig zu bewältigen sind.
Für freiheitsentziehende Maßnahmen gilt entsprechend, dass diese nur im Sinne einer Ultima Ratio eingesetzt werden und dafür alle rechtlich verfügbaren sächlichen und personellen Ressourcen bereitgestellt werden. Im Recht der freiheitsentziehenden Maßnahmen muss der Schutz der betroffenen Menschen weiterentwickelt werden.

7. Keine Ausschreibungen von Leistungen zur Teilhabe
Das sozialrechtliche Dreieck, in dem sich Leistungsberechtigte, Leistungsträger und Leistungserbringer auf Augenhöhe verständigen sollen, ist ein tragendes Gerüst für die Gewährleistung der individuellen Rechtsansprüche und für die Ausgestaltung langfristiger und hochwertiger sozialer Leistungen in Deutschland.
Alle Versuche, die Leistungsträger in eine dominierende Position zu bringen, widersprechen den Grundsätzen der Selbstbestimmung und bringen die Gefahr mit sich, das Wunsch- und Wahlrecht zu untergraben. Vergaberechtliche Beschaffungsverfahren sind für alle Teilhabeleistungen in allen Leistungsgesetzen abzulehnen.

Nach wie vor werden Menschen mit Behinderungen im politischen Geschehen überwiegend als passiv und allenfalls als Leistungsempfänger wahrgenommen. Ihre Rechte und Kompetenzen zu stärken, ist daher eine entscheidende Aufgabe sowohl für uns als Leistungserbringer als auch für die Politik.

Lobbyarbeit für sie zu betreiben und unsere zukünftige Regierung daran zu messen, ob die großen gesetzlichen Veränderungen u.a. durch das Bundesteilhabegesetz wirklich den versprochenen Paradigmenwechsel hin zu einem „echtem Teilhaberecht für alle Menschen mit Behinderung“ bedeuten oder doch als getarnte Sparmodelle entlarvt werden können, sollte daher neben all den großen weltpolitischen Themen auf keinen Fall aus dem Blick geraten!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert